Heilige wie du und ich
Ich habe das große Glück, mit mehreren Heiligen in einem Haus zu leben. Der, den ich am häufigsten ehrfürchtig bestaune, hört auf den Namen ‚Pumbi’. Sein richtiger Name lautet natürlich anders. Der heilige Pumbi kann einen ganzen Raum zum Strahlen bringen. Wenn er durch die Fußgängerzone läuft, drehen sich Passanten um und schauen ihm nach. Er sagt immer die Wahrheit. Ohne Ansehen der Person. Kinder lieben ihn. Sie fürchten ihn aber auch. Es kann nämlich sein, dass er ihnen unvermittelt mit dem Finger ins Auge sticht. Doch die Menschen sehen ihm das nach. Nicht weil er so heilig ist. Sondern weil er behindert ist. ‚Pumbi’ ist vier Jahre alt und autistisch. Ich finde oft, dass Gottes Herrlichkeit in ganz außergewöhnlichem Maß in ihm aufstrahlt.
Eine andere Heilige, mit der ich zusammen leben darf, bezeichnet sich selbst oft als Zweiflerin. Ich würde sie eher eine ‚Kämpferisch-Gläubige’ nennen. Sie schluckt nicht so einfach, was andere sagen. Selbst wenn es Gott ist. Ich habe schon unendlich viel von ihrem störrischen Zweifeln und Nachhaken gelernt. Ich durfte stellenweise dabeisein, wenn sie Gott ihre Fragen an den Kopf knallte. Das hat mich oft verstört, aber im Nachhinein sehr bereichert.
Es leben noch andere Heilige in unserem Haus. Da ist die eine, die darüber traurig ist, dass sie unsere Nachbarschaft nicht stärker evangelisieren kann, weil sie vor lauter Hausarbeit nicht dazu kommt, und die an Heiligabend unterm Weihnachtsbaum eine Kissenschlacht anzettelt, obwohl man das in ihrem Alter nicht mehr macht. Oder der andere, der sich ausgebrannt aus seinem Pastorenamt zurückziehen musste und dessen Lebensweisheit mich immer wieder in Erstaunen versetzt.
Ich bin ein glücklicher Mensch. Denn meine Freundschaft zu heiligen Menschen beschränkt sich nicht auf meine Hausgenossen. Eine weitere Heilige z. B., die mir den allergrößten Respekt abnötigt, wohnt in einer anderen Stadt und ruft uns in unregelmäßigen Abständen an. Sie hat in ihrer Kindheit ein schweres Trauma erlitten und leidet noch heute, einige Jahrzehnte später, darunter. Sie ist so schwer gekennzeichnet, dass sie manchmal in ihrer Verletztheit und Verwirrung nicht mehr weiß, wie man ein Bett macht. Aber wie deutlich sie Gottes Stimme hört und wie klar er durch sie redet, ist einfach beeindruckend. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass es fast immer Gottes Stimme ist, die da, gedämpft durch Antidepressiva, durch den Telefonhörer an mein Ohr dringt. Sie trifft einfach immer ins Schwarze!
Zerbrechliche Gefäße
Alle diese Menschen sind Heilige. Nach menschlichen Maßstäben haben sie nichts Besonderes vorzuweisen. Sie sind zu jung, zu unentschlossen, zu launisch, zu ausgepowert, zu unscheinbar, zu beschädigt. Aber wer genau hinsieht, entdeckt in ihnen die Herrlichkeit Gottes. Nichts anderes kann Paulus gemeint haben, als er schrieb: „Durch uns sollen alle Menschen Gottes Herrlichkeit erkennen, die in Jesus Christus sichtbar wird. Diesen kostbaren Schatz tragen wir allerdings in einem zerbrechlichen Gefäß. Denn so wird jeder erkennen, dass die außerordentliche Kraft, die in uns wirkt, von Gott kommt und nicht von uns selbst.“ (2. Korinther 4, 6b-7)
Was ist eine Heilige, was ist ein Heiliger? Heilige sind normale Leute, mit denen etwas Besonderes passiert ist: Sie haben Jesus getroffen. Und diese Begegnung hat ihr Leben völlig verändert. Jesus hat sie rausgeholt aus ihrem alten Leben und reingeholt in ein neues Leben.
Wenn etwas oder jemand heilig ist, dann ist der Gegenstand oder die Person ausgesondert worden zu einem speziellen heiligen Dienst. Gott sagt zu jemandem: „Dich will ich haben. Du sollst für mich etwas tun. Du sollst anderen vor Augen führen, wie ich bin. An dir sollen andere mein Wesen, meinen Charakter erkennen.“
Es ist also nicht der Mensch, der darüber entscheidet, ob er heilig sein will oder nicht. Sondern es ist Gott, der darüber befindet. Gott sondert sich Leute aus. Er entscheidet. Menschen werden nicht zu Heiligen, weil sie alles richtig machen. Sondern Menschen können ein Leben führen, das Gott gefällt, weil er sie zu Heiligen gemacht hat.
Was uns beunruhigen sollte
Heilig wird ein Mensch, wenn sie oder er dem Wunsch Gottes zustimmt und sich aussondern lässt. Man tut das, indem man zu Jesus sagt: „Wenn du so sehr an mich glaubst, dann will ich auch an dich glauben. Verändere mich so, wie es dir gefällt.“ Wer sich auf diese Weise an Jesus bindet, empfängt von ihm den Heiligen Geist, die Kraft Gottes. Dies ist der Moment, in dem ein Mensch zu einer Heiligen oder einem Heiligen wird: wenn der Geist Gottes ihn erfüllt.
Das menschlich gesehen Unfassbare ist, dass Gott sich nicht zuerst an die Helden unter uns wendet: die Moralischen, die Mächtigen, die Schmerzfreien, die Unerschrockenen, die Begabten, die Erfolgreichen usw. Im Gegenteil. Es sind vor allem die Kaputten, die Zerstörten, die Verletzten, die Unbegabten, die Traurigen, die Behinderten, in denen Gott leben will und durch die er handeln und reden will. Deshalb sagt Jesus in seiner Bergpredigt: „Glücklich sind die geistig Armen … glücklich sind die Traurigen … glücklich sind die Sanften …“ Glücklich sind die, die durch das Raster unserer erfolgs- und machtgeilen Welt fallen. Denn gerade sie will Gott zu seinem Dienst aussondern. Uns alle, die wir versuchen, zu den Schönen und Mächtigen zu gehören, sollte das eigentlich beunruhigen.
Wo Heilige besonders gefordert sind
Ironischerweise ist es nicht unsere Gesellschaft, in der es am schwersten ist, als Heilige bzw. Heiliger zu leben. Es ist nicht auf der Autobahn, nicht am Arbeitsplatz, nicht im Verein oder auf dem Fußballplatz. Am schwersten haben es die Heiligen in der Gemeinschaft der Heiligen: in der Gemeinde. Hier werden die schlimmsten Sünden verbrochen. Nur hier gibt es diese mit Freundlichkeit vermengte Boshaftigkeit, die die tiefsten Wunden schlägt. Das von Heiligen verübte Unrecht ist das hinterhältigste, weil man es von ihnen am wenigsten erwartet. Darum ist es die wichtigste Aufgabe aller Heiligen, zunächst innerhalb der christlichen Gemeinde ihrem Status als Heilige gemäß zu leben. Denn wenn es hier gelingt, dann gelingt es auch an jedem anderen Ort dieser Welt.
Paulus schreibt an die Christen in Kolossä: „Weil ihr von Gott auserwählt und seine geliebten Kinder seid, die zu ihm gehören, sollt ihr euch untereinander auch herzlich lieben in Barmherzigkeit, Güte, Demut, Nachsicht und Geduld. Streitet nicht miteinander, und seid bereit, einander zu vergeben, selbst wenn ihr glaubt, im Recht zu sein. Denn auch Christus hat euch vergeben. Das Wichtigste ist die Liebe. Wenn ihr sie habt, wird euch nichts fehlen.“ (Kolosser 3, 12-14)
Menschen wie du und ich
So zu leben, erfordert übermenschliche Kräfte. Man muss schon ein Gott sein, um in der Lage zu sein, sich Unrecht gefallen zu lassen, bereits vergeben zu haben, noch bevor der andere darum bittet, die unerträglichen Eigenschaften des anderen geduldig zu ertragen. Welcher Mensch wäre dazu in der Lage?
Nur Heilige, also Menschen wie du und ich. Menschen, in denen die Kraft Gottes wohnt. Weil sie sich von Gott aussondern ließen zu einem besonderen, heiligen Leben. Weil sie sich mit einer Kraft erfüllen lassen – jeden Tag neu – die nicht irdisch, sondern göttlich ist. Und die auf diese Weise das sind, was der Mensch von Anfang an eigentlich sein sollte: Ebenbilder Gottes.
Heilige sind die wahren Menschen, sie leben das wahre Leben, d. h. die Art von Menschsein, die Art von Leben, wie Gott es sich von Anfang an vorgestellt hatte. Das war das Selbstverständnis der ersten Christen. Und das sollte auch unser Selbstverständnis sein. Weil es stimmt. Du und ich – wir sollen den anderen zeigen, wie Gott ist und was es bedeutet, wirklich Mensch zu sein.
Dazu müssen wir nicht sonderlich beeindruckend sein. Es reicht völlig, ein ‚zerbrechliches Gefäß’ zu sein, mit Rissen, Macken und Löchern. Wichtiger als das Äußere ist der Inhalt: Gottes Herrlichkeit, die er in uns hinein gibt. Je rissiger das Gefäß, desto sichtbarer der Inhalt. Eigentlich ist es ganz leicht. Worauf warten wir noch?